Bundesverfassungsgericht: Vorlagepflicht zum EuGH bei Schadensersatzklage wegen DSGVO-Bagatellverstoß

Führen auch Bagatellverstöße gegen die DSGVO zu einem Schadensersatzanspruch nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO? Einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 14.01.2021 zufolge ist das eine Frage für den Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Das Verfassungsgericht hob eine Entscheidung des Amtsgerichts Goslar auf. Der spätere Beschwerdeführer hatte eine unverlangte Werbenachricht an seine berufliche E-Mail-Adresse bekommen. Das Amtsgericht hatte die Klage des Adressaten, soweit sie auf Schadensersatz gerichtet war, abgewiesen. Es sei kein Schaden ersichtlich, da es sich lediglich um eine einzige Werbe-E-Mail gehandelt habe, die als solche erkennbar und nicht zur Unzeit versendet worden war.

Die Frage, ob derartige Bagatellverstöße einen Schadensersatzanspruch auslösen, hätte das Amtsgericht dem EuGH vorlegen müssen, Rn. 18ff.:

(18) Das Amtsgericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass sich kein Anspruch des Beschwerdeführers aus der ohne seine ausdrückliche Einwilligung erfolgten Übersendung der Email aus Art. 82 DSGVO ergebe, weil ein Schaden nicht eingetreten sei.

(19) Der im Ausgangsverfahren zu beurteilende Sachverhalt warf die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch gewährt und welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 Satz 3 zu geben ist, der eine weite Auslegung des Schadensbegriffs im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verlangt, die den Zielen der DSGVO in vollem Umfang entspricht. Nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen, also diejenige natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO).

(20) Dieser Geldentschädigungsanspruch ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union weder erschöpfend geklärt noch kann er in seinen einzelnen, für die Beurteilung des im Ausgangsverfahrens vorgetragenen Sachverhalts notwendigen Voraussetzungen unmittelbar aus der DSGVO bestimmt werden. Auch in der bislang vorliegenden Literatur, die sich im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 wohl für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes ausspricht, sind die Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch unklar […]. Von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe (acte clair), konnte das Amtsgericht ebenfalls nicht ausgehen. Dies gilt umso mehr, als Art. 82 DSGVO ausdrücklich immaterielle Schäden einbezieht.

Anmerkung

Die ausdrückliche Ausweitung der Schadensersatzpflicht auch auf immaterielle Schäden ist eine Neuerung der DSGVO, die ganz erhebliche Folgen haben kann. Die deutsche Rechtsprechung zu Art. 82 DSGVO hat den Begriff bislang eng ausgelegt (BTW: die Latham DSGVO-Schadensersatztabelle ist eine wertvolle Übersicht der einschlägigen deutschen Rechtsprechung). Ein (zu) weiter immaterieller Schadensbegriff birgt ein nicht unerhebliches Missbrauchspotenzial – man denke nur an die massenhafte Geltendmachung von Bagatellen durch Legal-Tech-Dienstleister, die derartige Ansprüche derart automatisiert durchsetzen wie Entschädigungsansprüche nach Flugverspätungen.

Jetzt muss der EuGH die Streitfrage klären und dabei auch Position beziehen, ob mit Art. 82 DSGVO in das deutsche Deliktsrecht eingegriffen werden sollte, das bei immateriellen Schäden nach § 253 BGB eben nur dann einen Schadensersatz in Geld vorsieht, wennn mehr geschehen ist eine nur „vorübergehende, im Alltagsleben typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigung[…] des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens“ (BGH, NW 1992, 1043).

BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2021, Az. 1 BvR 2853/19